Weihnachtsengel in Ausbildung

Vor einigen Tagen fuhr ich mit der U-Bahn, der Waggon war nicht sonderlich voll, ich hatte ein Viererabteil für mich. Eine Station nach mir stieg eine junge Frau ein. Ihre langen blonden Haaren waren auf eine Art gewellt, die Dürer auf allen Selbstbildnissen vor Neid erblassen lässt. Ihre Augen waren von heller grau-blauer Farbe, schon nahezu silbrig. Auch hartgesottenere Menschen als ich wären bei ihrem Anblick auf jenen Gedanken gekommen, der mir nun durch den Kopf schoss: »Oh, ein Engel«

In den Händen trug sie eine Schachtel von gut mittlerer Größe, ein Format an der Grenze von handlich zu sperrig. Sie setzte sich mir gegenüber und platzierte ihre Fracht auf ihrem Schoß.
In großen Lettern stand oben auf dem Karton geschrieben: WEIHNACHTEN
»Sogar ein Weihnachtsengel«, dachte ich.

So richtig bequem dürfte es für sie nicht gewesen sein. Die Schachtel wurde hin und her gerückt, einmal die Hände an die Seite gelegt, einmal obenauf und schließlich entschied sie sich, ihre Fracht unter den Sitz zu stellen. Mit sanfter Gewalt schob sie den Karton unter die Bank, wobei dieser ein wenig aus der Form geriet, nicht schlimm, aber ein Knick hier und eine kleine Beule dort.
Mein Gegenüber schien zufrieden und setzte ruhig ihre Fahrt fort. Als aber der Zug unversehens in die Station einfuhr, der wohl der Bestimmungsort meines – ach bleiben wir dabei – Weihnachtsengels war, griff sie erschrocken und eilig nach dem Karton. Sei es, weil zuvor ein wenig rüde behandelt, oder weil nun, da der Waggon sich gefüllt hatte, eine weitere Person auf der Sitzbank saß – die Weihnachtskiste ließ sich nicht schnell und elegant fassen. Es bedurfte mehr Kraft, als der Schachtel gut tat, um sie unter der Bank hervorzuholen, sodass Weihnachten erneut ein paar Knicke, Falten und sogar einen kleinen Riss abbekam. Gerade noch rechtzeitig, knapp bevor die Türen des Waggons schlossen, schaffte sie es hinaus, einen Arm schützend um ihre kostbare Fracht gelegt.
Ich blickte ihr nach.

»Weihnachtsengel«, dachte ich, »in Ausbildung. Flügel haben sie noch keine, aber U-Bahn fahren dürfen sie schon« und musste lächeln.

In diesem Sinne allen ein gesegnetes Weihnachtsfest.

Speziell jenen, deren Weihnachtsschachteln jede Menge Falten und Risse zieren, die es gerade noch schaffen, nicht am Ziel vorbeizurauschen, die sich Weihnachten immer so plötzlich und unvermutet gegenüber sehen – alle Jahre wieder.
Wir reihen uns ein in die Schar der Weihnachtsengel in Ausbildung.